Auswirkungen auf die Dekarbonisierung durch den Angriff Russlands auf die Ukraine
Der Angriff Russlands auf die Ukraine verursacht viel Leid und Zerstörung, sowohl in der Ukraine als auch weltweit. Der anhaltende Krieg bedroht auch die Umsetzung der globalen Klimaziele. Die globale Klimapolitik steht an einem Scheideweg: Beginnt eine neue politische Ära der Konflikte, die eine globale Zusammenarbeit zur Emissionsreduzierung maßgeblich erschwert? Oder wird sich als Antwort auf den Angriff die Dekarbonisierung beschleunigen und den globalen Wandel hin zu sauberer Energieversorgung befördern?
Die Auswirkungen des Krieges auf das Klima weltweit sowie auf umweltpolitische Ansätze und Zusagen sind komplex. Sie zeigen gleichzeitig, dass extreme und unerwartete gesellschaftliche Ereignisse jederzeit eintreten können. Diese haben das Potenzial, die Umsetzung der globalen Klimaziele scheitern zu lassen und die Treiber einer umfassenden Dekarbonisierung zu behindern.
Solche gegenläufigen Tendenzen müssen noch konkreter analysiert werden, um sie zu bewerten. Wie UN-Generalsekretär Guterres im März 2022 erklärte, birgt dieser Angriff die Gefahr, dass die globalen Nahrungsmittel- und Energiemärkte ins Wanken geraten – mit erheblichen Auswirkungen auf die globale Klimaagenda. Da die großen Volkswirtschaften laut Guterres alles daran setzen, dass fossile Brennstoffe aus Russland ersetzt werden, könnten kurzfristige Maßnahmen eine langfristige Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen schaffen und das 1,5-Grad-Ziel verhindern (Guterres, 2022). Die Klimapolitik muss angesichts der unerwarteten Ereignisse und einer Veränderung des Fokus, der dem Klimawandel politisch weniger Priorität einräumt, Resilienz entwickeln.
Diese Box bündelt einige Auswirkungen des Angriffs und bewertet, ob sie die gesellschaftlichen Treiber in Richtung einer umfassenden Dekarbonisierung hemmen oder verstärken. Der Fokus liegt dabei auf einer Auswahl von Treibern und gesellschaftlichen Akteuren, die im aktuellen Outlook in einer sehr dynamischen Situation bewertet werden. So können plötzlich neue Dynamiken auftauchen, die sich auf die Bewertung der Plausibilität auswirken.
Auswirkungen auf die globale und regionale Zusammenarbeit zur Emissionsverringerung
Die Weltwirtschaftskrise (2008), die Wahl Donald Trumps (2016) und die COVID-19-Pandemie (2020) haben den Spielraum in der globalen Zusammenarbeit bei gemeinsamen Herausforderungen wie dem Klimawandel erheblich eingeschränkt. Die derzeitige Weltordnung ist nicht erst seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine unter Druck geraten, sondern bereits im vergangenen Jahrzehnt. Der Angriff hat das Potenzial, die weltweite Zusammenarbeit, wie wir sie kennen, zu beenden, und beeinflusst deren Abläufe bereits erheblich. Die weltweite Zusammenarbeit zur Verminderung von Emissionen steht vor einer besonderen Belastungsprobe: Der UN-Sicherheitsrat ist gelähmt, die Unzufriedenheit mit dem bestehenden System der internationalen Institutionen ist weit verbreitet, und neue Narrative und Institutionen, zum Beispiel aus China, fordern die internationale Ordnung heraus. Für die Dekarbonisierung ist entscheidend, ob eine Zusammenarbeit unter solch schwierigen Umständen weitergeführt wird oder ob der Wettbewerb zwischen den Staaten überwiegt. Fraglich ist auch, ob die Staaten in der Lage sein werden, die Ziele der Klimaabkommen von Paris 2015 und Glasgow 2021 umzusetzen. Dies hängt auch von den Kapazitäten und der Handlungsfähigkeit nichtstaatlicher und transnationaler Initiativen ab, die sich für eine vollständige Dekarbonisierung einsetzen (Abschnitt 6.1.1).
Es ist plausibel, dass der Angriff Russlands auf die Ukraine die weltweiten Anstrengungen, Emissionen zu vermindern, einschränken wird. Ein inoffizieller „Club“ gleichgesinnter liberaler Staaten – siehe den Vorschlag des deutschen Bundeskanzlers Scholz für einen Klima-Club auf dem G7-Gipfel im Juni 2022 – könnte sich jedoch weniger für globale als für lokale Initiativen zur Dekarbonisierung einsetzen, auch wenn dieser Plan zum Zeitpunkt des Verfassens dieser Box noch unplausibel ist (Falkner et al., 2021). Angesichts der verschiedenen kurzfristigen und kohlenstoffintensiven Reaktionen des Westens und der noch nicht umgesetzten mittelfristigen Pläne zur Dekarbonisierung ist es zu früh, die Auswirkungen auf die Plausibilität der Dekarbonisierung zu beurteilen. Abgesehen von einer globalen Bewertung der Anstrengungen zur Dekarbonisierung könnte der Angriff jegliche Ansätze des UN-Sicherheitsrats zunichtemachen, Fragen zum Zusammenspiel von Klima und Sicherheit anzugehen, einschließlich möglicher Zusammenhänge zwischen Klimarisiken und Konfliktrisiken (Mach et al., 2019).
Die regionalen Dynamiken als Reaktion auf den Angriff Russlands auf die Ukraine sind noch heterogener als die globalen Dynamiken (Abschnitt 6.1.1). Auf regionaler Ebene bringen derzeit vor allem die EU, aber auch die USA und Australien die Dekarbonisierung voran. Als Reaktion auf Russlands Angriff auf die Ukraine betonte die EU die Synergien zwischen Klimaschutzmaßnahmen und Versorgungsautonomie. Im Jahr 2020 importierte die EU 58 Prozent ihrer Energie, wobei ein erheblicher Teil davon aus Russland kam (Eurostat, o.J.). Als Antwort auf die Invasion bekräftigte die EU ihr Engagement für eine Energiewende und versprach in diesem Zug, sich weniger abhängig von Importen zu machen (Weise und Mathiesen, 2022). Das Paket „Fit for 55“ der Europäischen Kommission zielt darauf ab, die Treibhausgasemissionen in der EU bis 2030 um 55 Prozent zu senken und bis 2050 klimaneutral zu werden. Die Umsetzung dieser Pläne würde eine umfassende Dekarbonisierung plausibler machen, da die Finanzierung, die technische Machbarkeit und die politische Unterstützung sowohl für die Versorgungssicherheit mit Energie als auch für den Umweltschutz derzeit übereinstimmen.
Trotz verstärkter Bemühungen hat der Angriff unterschiedliche Auswirkungen auf die laufenden politischen Prozesse. Das Europäische Parlament hat den Vorschlag der Europäischen Kommission angenommen, ab 2035 keine neuen Autos mit fossilen Brennstoffen zuzulassen, und die EU-Mitgliedstaaten stimmten diesem Vorschlag zu (Ainger und Krukowska, 2022). Die Reform des europäischen Emissionshandelssystems wurde als nicht ehrgeizig genug kritisiert (WWF, 2022). Darüber hinaus zeichnet sich eine Rückkehr zur Kohle ab (Apnews, 2022; Redaktionsnetzwerk Deutschland, 2022). Erschwingliche Energiepreise und Klimaschutz haben in der Öffentlichkeit eine hohe Priorität (Europäische Kommission, 2022), die Mitgliedsstaaten sehen die Bemühungen der EU im Bereich Klimaschutz jedoch unterschiedlich (Zerka, 2022). Einige gehen davon aus, dass eine Verringerung von Emissionen in den nächsten Jahren schwierig wird, sind jedoch der Meinung, dass der langfristige Effekt der Energiepolitik und den Treibhausgasemissionen in Europa nutzen könnten (Tollefson, 2022, S. 232). In diesem Zusammenhang verursachte der Angriff weltweite Engpässe bei der Nahrungsmittelversorgung und beschränkte die EU-Klimamaßnahmen im Agrarsektor (Fortuna und Foote, 2022). Dies deutet darauf hin, dass der Angriff Fortschritte auf dem Weg zu einer vollständigen Dekarbonisierung kurzfristig erschwert, aber die Notwendigkeit einer vollständigen Dekarbonisierung und damit ihre Plausibilität langfristig erhöht – zumindest auf regionaler Ebene.
Der Angriff wird sich auch auf die Klimaschutzbemühungen in anderen Teilen der Welt auswirken. Wie plausibel eine vollständige Dekarbonisierung ist, wird von verschiedenen aktuellen Entwicklungen beeinflusst. Der globale Süden leidet unter den steigenden Energiepreisen. Eine kosteneffiziente Umstellung auf erneuerbare Energien und ausreichende Investitionen würden eine Dekarbonisierung wahrscheinlich möglich machen. Das jüngste UNFCCC-Vorbereitungstreffen für die COP27 brachte jedoch eine durchwachsene Bilanz (Harvey, 2022).
Auswirkungen von Kriegen und steigenden Militärausgaben auf Dekarbonisierungsbemühungen
Militär und Kriegsführung haben erhebliche Auswirkungen auf die Umwelt, da natürliche Ressourcen durch bewaffnete Konflikte verbraucht und verschmutzt werden (Graham-Harrison, 2022; Scheffran, 2022). Wegen der hohen Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen verursachen auch militärische Aktivitäten einen beträchtlichen Teil der Emissionen (Military Emissions Database, o.J.). In einem Zwischenbericht wird der CO2-Fußabdruck der EU-Militärausgaben im Jahr 2019 auf etwa 24,8 Millionen Tonnen CO2-Äquivalente geschätzt (Parkinson und Cottrell, 2021). Im Jahr 2020 entfielen fast drei Viertel der Emissionen der US-Regierung auf das US-Verteidigungsministerium (van Schaik et al., 2022). Die größte Herausforderung besteht in der Dekarbonisierung schwerer Waffen wie Kampfjets, Panzer, Kriegsschiffe und U-Boote.
Es wurden mehrere Initiativen zur Umstellung auf eine kohlenstoffärmere Energienutzung auf den Weg gebracht, um die mit fossilen Brennstoffen verbundene Vulnerabilität zu minimieren, die Abhängigkeit von Russland zu verringern und den Klimawandel zu bekämpfen (van Schaik et al., 2022). Es existieren jedoch keine konsolidierte öffentliche Berichterstattung über die Treibhausgasemissionen der nationalen Streitkräfte und keine übergreifenden Reduktionsziele. Darüber hinaus führt die derzeitige intensive Kriegsführung (Pereira et al., 2022) schon heute zu einem Anstieg der militärischen Treibhausgasemissionen. Da sich die Militärausgaben bereits auf einem historischen Höchststand befinden (Lopes da Silva et al., 2022), wird das geplante weitere rapide Wachstum der Militärausgaben Mittel von ambitionierten Projekten im Bereich der erneuerbaren Energien abziehen und zudem die Militärausgaben erhöhen, wodurch die Möglichkeiten für eine vollständige Dekarbonisierung eingeschränkt werden.
Auswirkungen auf die Dekarbonisierungsbemühungen Russlands und unmittelbare Rolle in der regionalen und globalen Zusammenarbeit
Die Politik Russlands ist nach wie vor von zentraler Bedeutung für die Zukunft der globalen Energiepolitik, doch die Aussicht in puncto Zusammenarbeit ist eher düster. Das Land gehört zu den größten Treibhausgasemittenten (EU EDGAR, 2021) und Öl- und Gasexporteuren (IEA, 2022h; 2022d), verfügt über die größten Gasreserven und erzielt 45% seiner Staatseinnahmen durch Energieexporte (IEA, 2022b). Außerdem ist die Einbindung Russlands in die globale Politik in der arktischen Region (Abschnitte 6.2.1 und 6.2.2), einem der weltweiten Klima-Hotspots (Froitzheim et al., 2021), von wesentlicher Bedeutung. Doch den hohen Exportanteil fossiler Brennstoffe, Vernachlässigung seitens der Politik und ausufernde Korruption führten zu „kritisch unzureichenden“ Klimazielen (CAT, 2022b). Russlands beabsichtigter national festgelegter Beitrag, der 2015 eingereicht wurde, enthält Verweise auf „positive“ Folgen des Klimawandels wie etwa einen geringeren Heizenergieverbrauch, eisfreie Schifffahrtswege im Norden (Abschnitt 6.2.3), den Aufbau der arktischen Region, die Ausdehnung landwirtschaftlicher Flächen und eine höhere Produktivität in der borealen Zone. Die geostrategische Agenda Russlands zielt auf die Kontrolle von Ressourcen ab, die für die globale Transformation entscheidend sind (Lazard, 2022), und derzeit lockert das Land seine nationalen Emissionsvorschriften (Doose et al., 2022). Als Reaktion auf den russischen Angriffskrieg ist der Arktische Rat derzeit eingefroren (Gricius und Fitz, 2022). Aus diesen Gründen wird eine globale Dekarbonisierung durch den Angriff Russlands weniger plausibel.
Darüber hinaus erhöht der zunehmende Einfluss Russlands auf dem globalen Getreidemarkt den Handlungsspielraum des Landes. Angesichts der geringen klimapolitischen Ambitionen des Kremls könnte dies die Dekarbonisierungsbemühungen einschränken, indem die politische Unterstützung beeinträchtigt und die Opportunitätskosten der Energiewende erhöht werden – insbesondere angesichts der klimabedingten Herausforderungen im Bereich Ernährungssicherheit (Abschnitt 6.2.6). Letztendlich erhöht ein geringerer regionaler Einfluss Russlands das Risiko einer Eskalation von Konflikten, zum Beispiel zwischen Aserbaidschan und Armenien oder Tadschikistan und Kirgisistan. Dadurch wird zudem die regionale Zusammenarbeit bei der Dekarbonisierung weniger plausibel.
Schlussfolgerungen
Der Angriff Russlands auf die Ukraine bringt die bereits vor Herausforderungen stehende internationale Ordnung durcheinander. Zudem brachte der Angriff die nationale Energiepolitik an einen kritischen Punkt. Die Regierungen können auf Unterbrechungen der Energieversorgung und steigende Energiepreise mit ehrgeizigen Ansätzen zur Transformation des Energiesystems reagieren. Wenn solche Programme schnell und umfassend umgesetzt werden, erhöhen sie die Plausibilität der Dekarbonisierung. Wenn Regierungen jedoch mit weiteren langfristigen Verpflichtungen für kohlenstoffbetriebene Energiesysteme reagieren, beschränken sie die Treiber für eine Dekarbonisierung. Es ist noch zu früh, um die Auswirkungen des russischen Angriffs auf die Plausibilität der globalen Dekarbonisierung im Ganzen zu beurteilen. Es ist jedoch plausibel anzunehmen, dass die kurzfristigen Verzögerungen eine Dekarbonisierung verhindern, die schnell genug greift, um die Temperaturziele des Pariser Klimaabkommens einzuhalten. Es ist plausibel, dass die globale Zusammenarbeit bei Fragen zum Klimawandel in den kommenden Jahren abnehmen wird.
Die Autor:innen
Anselm Vogler, Jürgen Scheffran, Ursula Schröder
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