Technologie und die Plausibilität von Klimazukünften
In aktuellen politischen Debatten zum Klimawandel und in der Politik-bezogenen Klimaforschung gewinnen die Rolle von Technologie und die Notwendigkeit technologischer Maßnahmen zum Erreichen der Temperaturziele des Pariser Abkommens zunehmend an Bedeutung. Dieser Fokus ist oft von einem starken Fortschrittsglauben geprägt, welcher technologischen Fortschritt als Lösung zur Begrenzung der globalen Erwärmung besonders herausstreicht und im Klimawandel zunächst eher ein technisches Problem als eine gesellschaftliche und strukturelle Herausforderung sieht. Diese starke Konzentration auf technologische Lösungen sowohl in der Vorstellung und Projektion von Klimazukünften als auch in der Entwicklung von Emissionsszenarien ist von der sozialwissenschaftlichen Forschung kritisiert worden (Hulme, 2014; Carton, 2019; Günel, 2019; Carton et al., 2020). Dennoch hat sich diese technologische Perspektive in der umfangreichen Literatur zu "soziotechnische[n] Szenarien und der Analyse von Machbarkeit von Transformationspfaden" (Aykut, Wiener et al., 2021, S.31) niedergeschlagen. In der auf techno-ökonomische Modellierungen basierenden Transformationsforschung stehen daher Fragen von Machbarkeit und der Umsetzbarkeit technologischer Lösungen im Hinblick auf den Klimawandel im Mittelpunkt (z. B. Jewell und Cherp, 2019; Nielsen et al., 2020). Dieser Zugang unterliegt jedoch einigen Begrenzungen und übersieht zentrale Aspekte in der Analyse von Übergangspfaden, die im CLICCS Plausibility Assessment Framework (Kapitel 2) aufgegriffen werden. Zum einen muss ein dezentralisierter Ansatz zur Klimaforschung und zu den Transformationsprozessen (Abschnitt 2.1) den technologischen Fortschrittsglauben kritisch reflektieren (Abschnitt 6.1.10), der fest in der Vorstellungswelt der westlichen Moderne verankert ist (Ezrahi, 1990). Zum anderen erzeugen sozio-technische Szenarien mehrere blinde Flecken. „Diese beziehen sich besonders auf den Stellenwert von Geschichte, der Rolle gesellschaftlicher Handlungsmöglichkeiten (agency) und auf eine Überbewertung von ermöglichenden Faktoren gegenüber den Hindernissen für die kohlenstoffarmen Klimazukünfte“ (Aykut, Wiener et al., 2021, S. 31). Daher muss eine globale Bewertung der Plausibilität von Klimazukünften die Aufmerksamkeit stärker auf nicht-ökonomische Dynamiken und auf gesellschaftliche Handlungsmöglichkeiten lenken, um zu verstehen, wie diese die Übergangspfade formen. Der CLICCS Plausibility Assessment Framework ersetzt weder die techno-ökonomische Modellierung noch vernachlässigt er die Bedeutung von Technologie. Vielmehr ergänzt er bestehende Ansätze und befasst sich mit Technologie im Kontext gesellschaftlicher Dynamiken und sozialer Treiber der Dekarbonisierung, da technologische Innovationen nicht als autonome Triebkräfte einer tiefgreifenden Dekarbonisierung betrachtet werden können.
Technologie und der CLICCS Plausibility Assessment Framework
Im ersten Outlook haben wir eine techno-ökonomische Plausibilitätsbewertung der vom IPCC verwendeten Szenarien vorgenommen und sind zu dem Schluss gekommen, dass „es substantielle Belege aus der techno-ökonomischen Modellierung gibt, die sowohl gegen die Plausibilität von sehr niedrigen, 1,5°C-kompatiblen Emissionsszenarien als auch gegen die Plausibilität von sehr hohen Emissionsszenarien wie dem RCP8.5 sprechen“ (Held et al., 2021). Zudem haben wir den Umfang, die Tiefe und die Geschwindigkeit der gesellschaftlichen Veränderungen analysiert, die notwendig wären, um die in den techno-ökonomischen Szenarien beschriebenen Entwicklungen in Dekarbonisierungsszenarien auch tatsächlich umzusetzen (Held et al., 2021). Dabei sind wir zu dem Schluss gekommen, dass ein vorrangig technologiegetriebener Übergang zu einer umfassenden Dekarbonisierung nicht plausibel erscheint, da vor allem erhebliche gesellschaftliche Veränderungen notwendig sind, in denen Technologien sehr unterschiedliche Funktionen haben. Um die erforderlichen gesellschaftlichen Veränderungen zu analysieren, hat der Outlook ein qualitatives Szenario für die gesellschaftliche Plausibilitätsanalyse entwickelt, nämlich eine umfassende Dekarbonisierung bis 2050 (Aykut, Wiener et al., 2021). Der CLICCS Plausibility Assessment Framework (Kapitel 2) unterstreicht, dass technologiebezogene Reaktionen auf den anthropogenen Klimawandel die Plausibilität von Klimazukunftsszenarien beeinflussen, da soziale und physikalische Dynamiken miteinander verwoben sind und sich gegenseitig bedingen. Je nach Umfang und Qualität der Technologien wirken sie sich dabei auf sehr unterschiedliche Weise auf die physikalischen Randbedingungen des Klimasystems aus. Zugleich wird die Nutzung und Wirkung von Technologie durch gesellschaftliche Dynamiken, wie sie in der globalen Möglichkeitsstruktur beschrieben werden, unterstützt oder verhindert (Aykut, Wiener et al., 2021; Abschnitt 2.2). Unterschiedliche Technologien wie z.B. die der Kohlenstoffabscheidung erfahren auch sehr unterschiedliche förderliche und hinderliche Bedingungen für ihr Wirksamwerden als gezielte menschliche Intervention zur Erreichung der Netto-Null-Kohlenstoffemissionsziele und zur Stabilisierung der globalen Oberflächentemperatur (Canadell et al., 2021, WGI AR6 Kapitel 5, S. 775). Zudem werden die Praktikabilität, die Durchführbarkeit und die Plausibilität technologischer Antworten und potenzieller Lösungen von ihrer der globalen und marktfähigen Verfügbarkeit in der nahen Zukunft beeinflusst (Held et al, 2021). Darüber hinaus sind die rechtlichen Rahmenbedingungen und die Veränderungen bestehender[DJW1] politischer Maßnahmen wie z.B. dem EU-Emissionshandelssystem von Bedeutung (Rickels et al., 2022; Abschnitt 6.1.3). Auch die Möglichkeit, dass Technologien in den bestehenden sozialen Dynamiken Ungleichheiten reproduzieren und gesellschaftliche Transformationsprozesse sogar eher unterminieren als sievoranzubringen, muss berücksichtigt werden (Pamplany et al., 2020). Daher gehen die Fragen zu Technologien und technologischen Innovationen als Kontextbedingungen der jeweiligen Treiberanalysen in unsere Bewertung zur sozialen Plausibilität ein. So ermöglichen beispielsweise neue Kommunikationsplattformen neue Formen der klimabezogenen Berichterstattung (Abschnitt 6.1.9), verfeinerte Erdbeobachtungskapazitäten ermöglichen eine bessere Beobachtung von Klimaveränderungen (Abschnitt 6.1.10) und zunehmend kostengünstigere erneuerbare Energien können das Auslaufen der Finanzierungsmöglichkeiten für fossile Brennstoffe beschleunigen (Abschnitt 6.1.7), tragen möglicherweise zu veränderten Unternehmensstrategien bei oder verändern die globale Zusammenarbeit im Rahmen der UN-Klimagovernance (Abschnitte 6.1.1 und 6.1.6) – aber auch anders herum, wenn effizientere Wege der Gewinnung fossiler Energieträger oder neue Fördertechnologien entwickelt werden.
Neue Technologien, neue plausible Klimazukünfte?
Die Bedeutung von Technologie, technischen Antworten und potenziellen Lösungen nimmt in verschiedenen Kontexten des Klimawandels erheblich zu. Der Einfluss von Technologie zeigt sich in politischen Debatten, in Vorstellungen von der Klimazukünften und in verschiedenen anderen gesellschaftlichen Prozessen wie der Energiewende. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist die Zukunft vieler technologischer Entwicklungen, die derzeit in Klimadebatten diskutiert werden, höchst umstritten. So werden beispielsweise erneuerbare Energietechnologien wie Photovoltaik, Batterien sowie On- und Offshore-Windkraft als Chancen gesehen und könnten die Dekarbonisierung und das Erreichen der Temperaturziele des Pariser Abkommens unterstützen. Sie bedürfen jedoch einer nachhaltigen staatlicher Unterstützung (oder zumindest der Beseitigung von Hindernissen), um in dem erforderlichen Umfang und der erforderlichen Geschwindigkeit umgesetzt werden zu können, und sie produzieren selbst Folgeprobleme mit Blick auf den Ressourcenverbrauch und potenzielle Rebound-Effekte. Andere Technologien, beispielsweise im Bereich Geoengineering, sind höchst umstritten und rufen Einwände hinsichtlich weiterer menschlicher Eingriffe in die Natur hervor, da sie als "künstliche Lösung für ein Designerklima " betrachtet werden (Pamplany et al., 2020, S. 3094 und Verweise darin). Sie sollen die globale Erwärmung verringern, indem sie entweder die Konzentration von Kohlenstoffdioxid (CO2) in der Atmosphäre verringern (Technologien zur Entfernung von Kohlenstoffdioxid, wie z. B. verstärkte CO2-Absonderung an Land und im Meer oder direkte CO2-Entfernung; Canadell et al., 2021, WGI AR6 Kapitel 5) oder die eingehende Sonneneinstrahlung verringern (Technologien zur Steuerung der Sonneneinstrahlung; siehe z. B. Vaughan und Lenton, 2011 und Verweise darin). Angesichts der anhaltenden Treibhausgasemissionen werden Technologien zur Kohlendioxidentfernung als erforderlich angesehen, um die Temperaturziele des Pariser Abkommens zu erreichen (IPCC SR1.5 SPM, 2018c). Gleichzeitig können sie echte Emissionsreduzierung nicht ersetzen und sind zudem mit erheblichen sozialen und politischen Herausforderungen verbunden. Trotz eines erheblichen Forschungsaufwands um die Wirksamkeit dieser Technologien, potenzielle Nebenwirkungen und Risiken des Scheiterns besser zu verstehen (Vaughan und Lenton, 2011), kann eine Aussage über diese Technologien im Hinblick auf ihre Machbarkeit und Plausibilität in einem sinnvollen Maßstab aktuell nicht gesichert getroffen werden. Um die heutigen Emissionen zu kompensieren, müsste Kohlendioxid in sehr großem Umfang aktiv aus der Atmosphäre entfernt werden. Dies ist derzeit jedoch nicht plausibel, da die Technologien entweder noch nicht in der Lage sind, genügend CO2 zu entfernen, oder noch nicht verfügbar sind (Canadell et al., 2021, WGI AR6 Kapitel 5). Gleichzeitig gibt es immer noch blinde Flecken, was das Verständnis und die Analyse der sozialen und ökologischen Auswirkungen der technologischen Reaktionen auf den Klimawandel betrifft (z. B. Stenzel et al., 2021). Es ist also wichtig hervorzuheben, dass nicht nur die Umsetzbarkeit und Nutzung von Technologien, die in den aktuellen politischen Debatten als zentral angesehen werden, sondern auch ihre Plausibilität im Hinblick auf Klimazukünfte höchst ungewiss bleiben.
Authoren: Jan Wilkens, Stefan C. Aykut
Die Autoren
Jan Wilkens, Stefan C. Aykut
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