Preisträger 2024: Dr. Youssef Ibrahim

Foto: privat
Welchen Einfluss hat der Klimawandel auf Wohlstand, Toleranz und Migration? Führt er zu Hassrede, Gewalt und Kriegen? Mindert er die Leistungen in Schule und Sport? Nicht nur die Sozialwissenschaften behandeln soziale Phänomene, auch die naturwissenschaftliche Klimaforschung interessiert sich für die Gesellschaft. Doch wie kommt das?
Der Hamburger Soziologe Youssef Ibrahim erforscht, wie die Gesellschaft zum Gegenstand der Klimawissenschaft wurde und welche Folgen der naturwissenschaftlich geprägte Blick für die Vorstellungen von Gesellschaft hat. Für seine herausragende Doktorarbeit erhält er den Wladimir Köppen Preis 2024 des Exzellenzclusters CLICCS. Darin erfasst er, wie sich die Beschreibungen der Gesellschaft und die Wahrnehmung des Klimas seit Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Gründung des Weltklimarats im Jahr 1988 wandelten.
Ibrahim startet bei zentralen Pionieren – wie dem Entdecker und Naturforscher Alexander von Humboldt, welcher das Klima bereits mit eindeutigem Bezug zum Menschen definierte, und Wladimir Köppen, der mit seiner berühmten räumlichen Klassifikation die Erde in klimatische Zonen einteilte. Er spinnt den Faden weiter über die Hinwendung zu den stärker mathematisch ausgerichteten Wissenschaften bis hin zur physikalisch fundierten Treibhaustheorie und den dynamischen Klimamodellen des Hamburger Physikers Klaus Hasselmann.
Dabei argumentiert Ibrahim, dass das Klima in den Wissenschaften immer als Spiegel fungierte, in dem die Gesellschaft beobachtet wird: Die Klimaforschung beschreibt demnach nicht nur physikalische Phänomene, sondern erzeugt oder bestätigt auch gesellschaftliche Weltbilder, Kategorien und Grenzen. Mit dem Klimabegriff wird so letztlich das gesamte menschliche Leben und Zusammenleben erfasst – so der Kern der Analyse. Ibrahim beleuchtet, wie sich im Laufe der Zeit das Verständnis von Klima änderte und mit diesem auch die Gesellschaftsbeschreibungen.
Die Dissertation arbeitet zwei Varianten eines Modells heraus, das die Gesellschaft in sogenannte soziale Klima-Nischen gliedert. Dabei wird das Klima gewissermaßen als ein Container betrachtet, der gesellschaftliche Strukturen formt und begrenzt. Zu Humboldts und Köppens Zeiten ging die Wissenschaft von einem stabilen, geografisch definierten Klima aus. Dabei wurde das Klima und mit ihm eine Mehrzahl von Gesellschaften je nach wirtschaftlicher, politischer oder kolonialistischer Perspektive eingeteilt. Das Modell beschrieb also die Gesellschaften in ihren jeweils räumlich begrenzten Klimata. Mit der Etablierung der Treibhaustheorie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden diese Vorstellungen von Beschreibungen abgelöst, die Klima und Gesellschaft seitdem mit Bezug zur Zeit und nur noch im Singular behandeln. Im Fokus steht nun, wie die Weltgesellschaft das Weltklima verändert und welche globalen Folgen dies hat.
Die Jury lobt, wie Ibrahim historische Entwicklungen, soziologische Theorien und aktuelle Diskurse miteinander verknüpft. Er stellt Bezüge zwischen Gebieten her, die in der Literatur üblicherweise noch nicht zusammengedacht wurden. Seine Arbeit zeigt eindrucksvoll, wie der naturwissenschaftliche Blick das gesellschaftliche Selbstverständnis formt. „Youssef Ibrahim betrachtet die naturwissenschaftliche Klimaforschung aus soziologischer Perspektive und kann so systematisch und theoriegleitet die Gesellschaft aus naturwissenschaftlicher Perspektive analysieren", sagt die Sprecherin des Exzellenzclusters CLICCS Prof. Johanna Baehr. "Dieser doppelte Perspektivwechsel ist höchst faszinierend – sowohl für unser natur- und sozialwissenschaftliches Hamburger Cluster als auch für den gesellschaftlichen Klimadiskurs. Ich gratuliere Youssef Ibrahim sehr herzlich zum Wladimir Köppen Preis!"
Publikation: Ibrahim, Y., 2025: Soziale Klima-Nischen. Eine historische Soziologie naturwissenschaftlicher Gesellschaftsbeschreibung. Weilerswist: Velbrück (im Erscheinen).