and Society (CLICCS)
Digitaler Zwilling der Erde: Welche Risiken gibt es?
10. Juli 2024, von CLICCS News
Foto: NASA
Die Vision der Europäischen Union und der Europäischen Weltraumagentur ESA ist kühn: Durch die Kombination von Satellitendaten, computergestützten Modellen und Künstlicher Intelligenz soll ein digitaler Zwilling unseres Planeten erschaffen werden. Mit ihm könnten zukünftige Entwicklungen des Erdsystems und seiner Gesellschaften von der globalen bis zur lokalen Ebene simuliert werden. Die Verfügbarkeit eines solchen integrierten globalen Modells hätte erhebliche Vorteile für die Klimawissenschaften: Es würde Beobachtungsdaten mit Computermodellen vereinen, Modelle von physischen und sozialen Systemen integrieren und deren Skalierbarkeit ermöglichen. Doch die Verfügbarkeit eines solchen digitalen Zwillings unseres Planeten könnte auch politische Auswirkungen haben – etwa auf die Politik der EU im Bereich der Klimasicherheit.
Die Chancen und Risiken des Regierens mit Hilfe von digitalen Zwillingen hat Dr. Delf Rothe in einem neuen Artikel in der Fachzeitschrift International Political Sociology untersucht. Von jeher hat das Versprechen, die Zukunft berechenbar und damit leichter beherrschbar zu machen, eine große politische Strahlkraft. Dies gilt auch für die EU, in der die Vision mit der Initiative Destination Earth (DestinE) vorangetrieben wird. Gemeinsam mit dem Europäischen Erdbeobachtungsprogramm Copernicus würde DestinE ein wichtiges Instrument für den europäischen Umgang mit der Klimakrise liefern.
Mithilfe des Modells könnten etwa Naturkatastrophen, Konflikten oder Migrationsbewegungen frühzeitig erkannt und präventiv bearbeitet werden. Delf Rothe beschreibt diese neuartige Möglichkeit, Zukunftsrisiken zu adressieren, als „planetares Experimentieren“. So könnte etwa die Wirkung riskanter politischer Entscheidungen – zum Beispiel ein großflächiges Geoengineering-Programm – in einer sicheren virtuellen Umgebung vorab simuliert werden.
Politische Entscheidungen würden stärker in den Händen Einzelner liegen
Neben technischen Hürden gibt es aus Sicht des Autors jedoch auch eine Reihe politischer Risiken, die hierbei beachtet werden sollten. So sind erstens die virtuelle Umwelt des Datenzwillings und das reale physische Erdsystem durch Rückkopplungseffekte miteinander verknüpft: Die Aussicht, Geoengineering-Experimente in einer virtuellen Umwelt simulieren zu können, könnte etwa die Entwicklung solcher Ansätze in der realen Welt wahrscheinlicher machen. Zudem verbrauchen Technologien wie Künstliche Intelligenz oder Supercomputer enorme Ressourcen und Energie, befördern also unter anderem die Erderwärmung. Der digitale Zwilling beeinflusst die physische Welt und ist eng mit ihr verbunden.
Zweitens würde die politische Entscheidungsfindung zunehmend in die Hände weniger Expertinnen und Experten gelegt, denn die Nutzung eines digitalen Zwillings erfordere spezialisiertes Wissen. Obwohl eine Anwendung derzeit für zivile Probleme wie den Klimawandel geplant ist, könnte die Technologie auch für militärische Zwecke genutzt werden. Dies würde den Kreis der Nutzerinnen und Nutzer zusätzlich einschränken.
Drittens abstrahiert der globale Maßstab des planetaren Zwillings von lokalen Realitäten und könnte lokales Wissen unsichtbar machen. Dies wirft laut Rothe Fragen globaler Gerechtigkeit auf: Welche Zukünfte werden durch den digitalen Zwilling ins Zentrum gerückt, welche ausgeschlossen?
In der Studie hat der Politikwissenschaftler Rothe die Entwicklung der Vision eines digitalen Zwillings von 2019 bis 2021 ausgewertet. Für seine Feldforschung führte er qualitative Interviews mit 22 Expertinnen und Experten aus dem Bereich der Europäischen Weltraum- und Technologiepolitik, analysierte politische Hintergrunddokumente und offizielle politische Publikationen der EU und nahm an Expertentreffen sowie Konferenzen teil.
Fachartikel
Rothe D (2024): When the World Is an Object: On the Governmental Promise of a Digital Twin Earth; International Political Sociology, Volume 18, Issue 3, September 2024, olae022
Die Studie ist Teil des CLICCS Projekts B3 – Konflikt und Kooperation an der Schnittstelle von Klima und Sicherheit. Das Projekt untersucht, wie Staaten und Gesellschaften mit klimawandelbedingten Unsicherheiten umgehen und welche Strategien zur Bewältigung sie entwickeln – etwa durch Rückgriff auf neue digitale Technologien.
Kontakt:
Dr. Delf Rothe
Universität Hamburg
Institut für Friedensforschung und Sicherheit
Exzellenzcluster "Climate, Climatic Change, and Society" (CLICCS)
Tel.: +49 40 8660-7785
E-Mail: rothe"AT"ifsh.de